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Gedichte - Poetry

Wörter

Damals als ich noch zwischen
den Zeilen lesen konnte und immer
genau wusste was als
nächstes um die Ecke kam

ja damals

heute löse ich lieber Kreuzworträtsel
verstecke mich hinter Wörtern
mit sechs Buchstaben und bin

einfach gestrickt wie die Pullover
die meine Mutter für mich strickte
und die mich am Hals immer
kratzten

die langen Winter und
das Kratzen ließ niemals nach

niemals auch so ein Wort diesmal
sind es sieben Buchstaben

jemand kann mit diesem Wort sehr
schnell abhandenkommen ganz
so als hätte es ihn nie gegeben

Gerüche

Hat Dunkelheit nicht einen
seltsamen Geruch frage ich
mich und frage auch dich wie
wir so durch die Nacht gehen
und du die du klüger bist als
ich sagst Dunkelheit riecht
wie das Licht das aus den
Fenstern ringsum auf uns
fällt und dieses Licht riecht

nach nichts was also ist dein
Problem gestern war noch
alles in Ordnung mit dir
und wir wollten für immer
zusammensein aber heute
mein Freund will ich mich
von dir verabschieden am
besten gleich hier dir fehlen
die Worte ich weiß bin ich

ein Schwein sag schon
dort kommt die Straßenbahn
versuch nicht mich zu halten
vielleicht winke ich noch aus
einem der Fenster leb wohl ach
ja die Dunkelheit ab jetzt ist sie
eine andere gut möglich
dass sie wirklich riecht nach
was das überlasse ich nun dir

Oma

Oma war nicht glücklich obwohl
vielleicht doch in kleinen
Augenblicken die sie durchwanderte
mit festem Schritt am Ende

kommt alles im Magen zusammen
war ihre Devise das Glück das
Unglück eben alles und grobes Brot
sie entschlief sanft ein Engel hob sie

auf und ließ sie wie ein Papierflugzeug
segeln sie sträubte sich nicht flog durch
alle Wolken es gibt ein Foto davon
sie lächelte so war sie die Oma

Trick

Denkst du an mich wenn du
gerade nicht an mich denkst
das ist die Kunst ähnlich dem
Trick ein Kaninchen aus dem
Hut zu ziehen der gestern noch
unschuldig auf dem Kopf eines

Mannes saß auch das Kaninchen
war gestern noch woanders es
ist verwirrt ich bin es auch wenn
du nicht an mich denkst finde
ich nicht mehr zurück wer weiß
was alles geschieht ich treffe das

Kaninchen ich treffe den Mann
mit dem Hut an einer finsteren Ecke
der Stadt stehen wir uns gegenüber
der Mann zieht den Hut und das
Kaninchen hüpft hinein ohne zu
zögern beginne ich zu träumen

Dichter

Erinnern sich die Dinge an mich
wie ich mich an sie erinnere
der verlorengegangene Füller
erinnert er sich manchmal an die
Gedichte die ich mit ihm schrieb
an meine Hand
er ist nun woanders in einer
Schublade vielleicht mit anderen

Sachen längst in Vergessenheit
geraten und stand nicht
sogar mein Name eingraviert
auf seiner Kappe
in großen Buchstaben und
in der Dunkelheit der Schublade
jetzt ebenfalls
ohne den geringsten Wert

Eines Morgens

Wie spät ist es eigentlich sind
die Kriege schon aus oder
beginnen sie erst ich schneide
mir die Fingernägel im
Badezimmer frage mich wieviel

Zeit mir noch bleibt und was
danach kommt möglicherweise
nichts meine abgeschnittenen
Nägel versammeln sich im
Waschbecken was wissen sie

was ich nicht weiß sie
sehen bedeutend aus auf dem
weißen Emaille als ruhten
sie aus und hätten die Wahl
zwischen Abfluss und Ewigkeit

Ghost

Vor fünfzig Jahren startete mein Vater
seinen Wagen um heute hier zu
sein er rauchte schon damals nicht
mehr also trank er Kaffee und aß was
ihm unter die Räder kam auf den endlosen
Straßen sah er sich im Rückspiegel älter
werden sein Bart wurde grau dann weiß
den Tankstellen gab er die Namen seiner
ungeborenen Kinder im Sommer sang er
bis ihm die Tränen kamen irgendwann
lösten sich seine Kleider in Luft auf
und er fror bis heute wir alle warten
gespannt stehen am Zaun und blicken
die Straße hinunter Mutter hat einen
Kuchen gebacken zur Feier des Tages
atmen wir langsam jetzt kommt er sein
Wagen schießt die Auffahrt hoch das
Scheppern von Blech eine Wolke aus
Staub die sich auf Mutters Rosen legt
dann Stille wir hören einen Bart rauschen
doch es ist nichts und wieder nur nichts

aus: Warum gerade heute" (Droschl Verlag, 2012).

Luise

Als sie das letzte Mal mit mir
sprach war sie noch am Leben
es war in Wien und ich schlief
wie der Schnee auf den Dächern
und nichts konnte mich wecken
da stand sie vor mir und hielt
wie meistens ihr Strickzeug in
Händen und strickte während wir
sprachen einen Pullover aus
dunkler Wolle unmöglich war
es einer für mich er kam mir
riesig vor folgte man einem der
Ärmel so ging man gewiss
verloren ein Schaudern durchlief
mich schon klopfte ich zaghaft
ans Fenster des Wachseins und
gleichzeitig mit mir schlug der
Schnee die Augen auf schimmerte
im Frühlicht als hätte auch er
geträumt ich blieb noch im Bett
und so schlief ich abermals
ein doch Luise ließ sich nicht
blicken es gab keine Nachricht
von ihr keinen Zettel mit ihrer
winzigen Schrift der irgendwo lag

aus: Warum gerade heute" (Droschl Verlag, 2012).

Im Mai

Ein Mann und sein
Schatten verlassen gemeinsam
das Haus jeder für sich sie
sind nur zufällige Bekannte mit

denselben Interessen selten
sitzen sie zusammen am
Tisch doch kann es
vorkommen dass sie sich
in den Armen liegen

beide betrunken unter blühenden
Bäumen an einem Frühlingsabend
im Mai und weinen
weinen um den Rest dieser Welt

Zwei Schwestern am See

Zwei Schwestern zusammen
einhundertundsechzig Jahre alt
treffen sich wieder nach
längerer Zeit

ein Hauch die eine
soll ich sagen geisterhaft
ihr Haar ein weißes
Wehen sie ist die jüngere

die andere war immer anders

sie sitzen nebeneinander
am Ufer jenes Sees und essen
mitgebrachte Brote

Brote wie Boote sagt leise
die ältere und beide legen
kichernd all ihre Kleider fort
und schwimmen hinaus

was für ein Tag

Möwen begleiten sie
und drehen dann ab

November

Was einem so alles durch den Kopf
geht und plötzlich stehen bleibt wie
auf Kommando sich niederlässt und
beginnt es sich wohnlich zu machen

Wege anlegt Hütten zimmert und
überm Feuer das Abendessen kocht
um sich dann satt und zufrieden
schlafen zu legen das alles während

man im Bus sitzt aus dem
Fenster blickt und hin und wieder
verstohlen ein Mädchen betrachtet
das mit sich selbst spricht sich in die

Haare fasst seinen Kopf schüttelt bis
endlich die Schlafenden erwachen
das Feuer niedergebrannt ist und
ihnen die Kälte in die Knochen steigt


Fotos: Max Sessner, Wolfgang Mennel (November)